Freitag, 5. Oktober 2012


vernünftigbleiben.ch

ein Selbstversuch


Es ist soweit. Ein Volk geht baden. Sinngemäß vielleicht auch, aber zunächst einmal ganz real.

Dass es dazu kommt, liegt an der Jahreszeit und an der Temperatur -  der Wassertemperatur wohlgemerkt und die liegt im August im Durchschnitt bei 17 C. Spätestens jetzt ist jedem Leser klar, dass wir nicht von spanischen Stränden sprechen. Die Rede ist viel mehr von der Aare, jenem Fluß, der die Schweizer Bundeshauptstadt Bern durchquert.



Wem 15 - 17 Grad im Hochsommer schon in Gedanken Frostbeulen beschert, der sei daran erinnert, dass dafür der Thuner See verantwortlich ist. Er besteht wie jeder See aus mehreren Wasserschichten, wobei das Oberflächenwasser leichter und wärmer ist, die Schichten darunter hingegen kälter und schwerer werden. Im Sommer wärmen sich die oberen Schichten durch Sonneneinstrahlung auf – langsam allerdings, da der See aus Gletscherwasser gespeist wird - und fließen in die Aare ab.




So weit so gut.
Viel wichtiger ist aber, dass dann der Zeitpunkt gekommen ist, wo alle Berner und manche Zugereiste es wieder tun: Die Aare hinab schwimmen. Es ist ein Volksvergnügen der stillen, verträglichen und ganz schweizerischen Art. Der mündige Bürger entscheidet selbst, ob er sich den reißenden Fluten aussetzt. Lediglich ein Hinweisschild mahnt, dass nur Ortskundige und geübte Schwimmer den Sprung wagen sollten, doch verboten ist es nicht. So einfach lassen sich die Bewohner der Alpenrepublik von der Obrigkeit auch nichts vorschreiben. Der Schweizer ist vernünftig, verständig und in der Lage, selbst über sein Schicksal zu entscheiden – und auch ganz konkret, welchen Verlauf es nimmt. Denn der Lauf des Flusses hat seine Tücken und hinein ist leichter als wieder hinaus.


Dem Vergnügen tut all dies keinen Abbruch. Allein, zu weit oder in Gruppen, mit Schlauchbooten, Flößen, Schwimmenten, leeren Plastiktonnen, mit Neoprenanzug oder Sonnenbrille – alles ist erlaubt,; es macht keinen Lärm und hinterlässt außer gelegentlichem Strandgut keinen Müll und keine Altlasten. Höchstens glückliche Gesichter.


Und so wage auch ich den heldenhaften Selbstversuch. Zwar stürze ich mich nicht von einer der Brücken, sondern wate ganz unspektakulär im Eichholz bis in die Mitte des Flusses. Doch was dann kommt, ist mitreißend, so oder so. In Sekunden bin ich zig Meter flussabwärts. Schwimmen ist unnötig, sich treiben lassen nicht der richtige Ausdruck. Eher wird man getrieben. Das Ufer fliegt vorbei. Die Kälte drückt auf den Brustkorb und nimmt mir den Atem. Ich bin ziemlich unentspannt auf meiner Schussfahrt, während vor und hinter mir die Leut' ganz relaxt dahin zu gleiten scheinen. Nach wenigen hundert Metern drängt sich auch schon die Frage auf, wo und vor allem wie komme ich hier wieder raus.

An der Uferbefestigung sind in regelmäßigen Abständen Haltestangen angebracht. Die Kunst ist, rechtzeitig von der Flussmitte her einen dieser Griffe an zu visieren und dann Geschwindigkeit und Richtung möglichst exakt miteinander in Verbindung zu setzen. Oder anders formuliert: Wer zu spät zupackt, dem kugelt die Strömung den Arm aus. Zwei Versuche schlagen fehl. Am Rand hält die Strömung unvermindert an, aber die Wassertiefe nimmt jäh ab. Ich werde über den steinigen Grund gerissen und schürfe mir Füße, Beine und Knie auf. Erst beim dritten Mal klappt es mit der Navigation. Trotzdem ist es ein Gefühl, als ob plötzlich Tonnengewichte am Schultergelenk reißen.


Geschafft.
Übrig bleiben Stolz und Kälte. Die Zähne klappern erbärmlich. Also schnell einreihen in den Strom der Barfüßigen, der sich unaufhaltsam stromaufwärts bewegt. Manche haben ihre Kleider in wasserfesten Säcken transportiert und tauschen jetzt Badehose gegen Businesshemd. Kein schlechter Arbeitsweg. Alle anderen latschen und trippeln kilometerweit zurück, um erneut in die eisigen Fluten ein zu tauchen. Ich bin nach einer Dreiviertelstunde wieder am Ausgangspunkt. Ein großes Schild mahnt „Haltet das Eichholz sauber!“. Ja, vernünftig bleiben. Obwohl das Schild eigentlich nur für die Ausländer aufgestellt worden sein kann. Die Sanitäranlagen sind so sauber, dass man eine Berner Platte vom Boden essen könnte. Da verhält sich der Schweizer  ordentlich und braucht keine Anweisungen. Vermutlich auch keine Security-Firma mit Namen Bronco, deren monströser Ami-Pickup mit einer Ladefläche so weit wie Texas vor dem Eingang parkiert ist. Aber das ist nicht das Thema hier, oder wie heißt es: „Verlier ke Ziit mit däm Blödsinn!“ In diesem Sinne, vernünftig bleiben.ch



Dienstag, 25. September 2012


Sprung in die Vergangenheit

Zu Besuch auf der olympischen Großschanze in Saint-Nizier-du-Moucherotte

Es ist heiß, die Luft flirrt und kein Lüftchen regt sich. Insekten sirren und summen um die Wette, durch Schritte aufgescheuchte Eidechsen unterbrechen kurz ihr Sonnenbad. Kaum vorstellbar, dass dieser sonnenverwöhnte Hang einst tausenden von Schaulustigen im Winter als Tribüne diente. Wir stehen im Auslaufbereich der olympischen Großschanze in Saint-Nizier-du-Moucherotte, einem kleinen Wintersportort im Vercors-Gebirge.


1968 fanden die olympischen Winterspiele in Grenoble, im französischen Département Isère statt. Zum ersten mal gab es mit dem stilisierten Skiläufer „Schuss“ ein offizielles Maskottchen, farbige Fernsehbilder auf dem heimischen Bildschirm und eine bisher ungekannte Dezentralisierung bei den Austragungsstätten.




Und so hatte man im Vorfeld beschlossen, das prestigeträchtige Springen von der Großschanze nicht in Autrans stattfinden zu lassen, wo sich bereits die Normalschanze befand, sondern eben hier oben, nur 17 km von Grenoble entfernt, in 1200 Metern Höhe. Die bessere Erreichbarkeit und die traumhafte Lage mit Blick auf die Stadt sollten deutlich mehr Zuschauer mobilisieren. Zudem erwies sich das Gelände unterhalb der „trois pucelles“ als windgeschützt und schneesicher. Die Planung der neuen Dauphine-Schanze übernahm der französische Architekt Pierre Dalloz, unterstützt von seinem deutschen Kollegen Heini Klopfer und im Juli 1966 begannen die Bauarbeiten an dem 5.9 Millionen Francs teuren Projekt.



Während der Wettbewerbe kamen bis zu 70.000 Zuschauer nach Saint-Nizier-du-Moucherotte. Olympisches Gold gewann der Russe Vladimir Belussov mit einer Weite von 101,5 Metern. Den Schanzenrekord aus dem Jahr 1981 hält der Norweger Roger Ruud mit 111 Metern. Da war die Schanze bereits zur K112 umgebaut und stand für kurze Zeit sogar im Weltcup-Kalender. Benutzt wurde sie über die Jahre dennoch kaum und seit 1990 ist die Anlage gesperrt und verfällt. Der Beton ist brüchig, die Anlaufkonstruktion marode und sowohl die Kosten für einen Abriss als auch für den Wiederaufbau sind zu teuer. Der ehemalige Austragungsort wird mehr und mehr zum Ausgrabungsort.






Aber man kann ihn noch spüren, den olympischen Geist von einst. Zwar ist die Tribüne überwuchert, die elektronische Anzeigetafel ein verrostetes Stahlskelett im Wald und der Schanzentisch eingebrochen, doch wenn man kurz die Augen schließt und meint den tosenden Beifall aus der Vergangenheit zu hören, sie wieder öffnet und einem beim Blick auf die winzigen Häuser von Grenoble tief unten die Knie weich werden, dann möchte man fliegen - weit, weit hinaus...



Freitag, 31. August 2012


Der Traum des Architekten
Eine Reise zu den Pyramiden von La-Grande-Motte

Planstädte, Neustädte, Hauptstädte auf dem Reißbrett – sie alle sind Produkte und spätere Zeugen einer bestimmten Zivilisationsstufe und weisen doch schon während ihrer Entstehung weit über diese hinaus. Der Gedanke sich zu verewigen, etwas Monumentales und gleichsam Weg weisendes in Stein zu meißeln, hat Staaten und Herrscher immer fasziniert. Das „Regieren per Dekret“, welches alle Bedenken beiseite räumt und zentrale Entscheidungen trifft, gepaart mit dem unbedingten Fortschrittsglauben der Moderne, bildet die idealen Rahmenbedingungen für einen solchen Masterplan.






 Anfang der Sechziger Jahre beginnt die Wohlstandsgesellschaft dem einzelnen Menschen mehr Freizeit zur Verfügung (und zum Vergnügen) bereit zu stellen. Der Massentourismus entsteht. Im Frankreich de Gaulles soll das Phänomen in breite Bahnen gelenkt werden und man beabsichtigt die abgelegenen, sumpfigen und mücken-verseuchten Küstenstreifen des Languedoc umzugraben. Ganze Städte, großzügig und für den zunehmenden Verkehr gerüstet, sollen aus dem Nichts entstehen und der positiven Zukunft ein neues Gesicht geben.





Der 38jährige Architekt Jean Balladur erhält den Auftrag La-Grande-Motte zu erschaffen und widmet sich mit zeitgemäßer Heroik dem gigantischen Vorhaben. Ein Traum für jeden Architekten und nur für wenige wird er wahr. So wie für Oskar Niemeyer, der Brasilia entwirft, und Le Corbusier, dessen Handschrift Chandigarh, die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Punjab, trägt.


Balladur lässt sich bei seinem städtebaulichen Entwurf gleichsam von den vorgefundenen Gegebenheiten wie Wind und Wellen, als auch von den Eindrücken einer Südamerikareise inspirieren. So sind die Vorbilder seiner pyramidenförmigen Appartementhäuser um die Marina in mexikanischen Tempelanlagen zu finden. Dagegen erinnern die Balkone an die mystischen hängenden Gärten in Persien – vielleicht eine Reminiszenz an Balladurs Herkunft; der Architekt wurde in Izmir geboren. Faszinierend ist das einheitliche bauliche Ensemble, welches auch später nicht durchbrochen, sondern in Vororten von Schülern Balludurs fortgesetzt wurde. Bis heute ist die einheitliche Farbgebung jedes Gebäudes durch orangen, blaue oder grüne Jalousien erhalten geblieben. Die Fassaden spielen mit Wellenmotiven, gewinnen dadurch eine fast spielerische Leichtigkeit und die Gebäude passen sich trotz ihres futuristischen Aussehens organisch in die Landschaft ein. Man atmet noch den positiven Fortschrittsglauben der Gründer, zu einer Zeit, in der dem modernen Menschen uneingeschränkt die Zukunft gehörte.









Freitag, 20. Juli 2012

Das Internierungslager Les Milles

Eine Autobahnausfahrt südlich von Aix-en-Provence, die unvermeidliche zone Industrielle, ein Bahnübergang und dann "inmitten dieser schönen Landschaft unsere häßliche Ziegelei". 


Von der schönen Landschaft ist nicht mehr viel zu sehen, aber die von Lion Feuchtwanger  in "der Teufel in Frankreich" erwähnte Ziegelei steht noch da. Nur die Hauptakteure aus Feuchtwangers Bericht, haben das Backsteingebäude längst verlassen. Mit unterschiedlichem Ziel und Schicksal. Deutsche Emigranten wie Feuchtwanger, Max Ernst oder Walter Hasenclever waren hier zwischen 1939 und 1940 interniert, mit bis zu 3000 Mitgefangenen auf engstem Raum. "Überall lagen zerbrochene Ziegelsteine, überall Ziegelstaub, sogar im kargen Essen..." schrieb Max Ernst. Ein Künstlerkollektiv unter den Insassen hinterließ großflächige Wandmalereien und Fresken mit Elementen aus Surrealismus, Moderne und Agitprop, die zynische Titel wie "Weinlese" und "Schlaraffenland" trugen.


Mit dem Vormarsch der Nationalsozialisten schwand auch die Hoffnung der Internierten. Der Kommandant stellte allen Freiwilligen einen Eisenbahnzug zur Verfügung, der sie an die Atlantikküste bringen sollte. Doch der Zug der Zweitausend musste unterwegs umkehren und die Insassen kamen in ein neues Lager bei Nimes, die Dagebliebenen wurden nach Dachau deportiert. Ab 1942 erreichte "die Endlösung" auch die jüdischen Familien in Südfrankreich und Les Milles wurde zum Deportationslager. Von hier aus führten die Sammeltransporte über Drancy nach Auschwitz.

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Fresken im ehemaligen Raum der Wachmannschaften

ehemalige Verladestelle






Donnerstag, 19. Juli 2012

The Fisher-Price Series




SALINE ROYALE, ARC-ET-SENANS

Die königliche Saline von Arc-et-Senans ist ein Industrieschauspiel von magischer Atmosphäre, vollkommener Symmetrie und ästhetischem Anspruch. Der Architekt Claude-Nicolas Ledoux folgte mit der Realisierung im Jahr 1775 seiner Idee des Bauens für die Sinne und der Suche nach der idealen Stadt. Niemand bleibt unberührt von dieser theatralischen Anlage mit halbkreisförmiger Anordnung, die den Lauf der Sonne beschreibt und trotzdem eine "vernünftige" Produktionsanlage war, die den Arbeitsprozess unter genaue Beobachtung und soziale Kontrolle stellte .


 

Das Haus des Direktors


Dachstuhl der östlichen Salzwekstatt


thematische Gestaltung der Gärten