vernünftigbleiben.ch
ein Selbstversuch
Es
ist soweit. Ein Volk geht baden. Sinngemäß vielleicht auch, aber
zunächst einmal ganz real.
Dass
es dazu kommt, liegt an der Jahreszeit und an der Temperatur - der
Wassertemperatur wohlgemerkt und die liegt im August im Durchschnitt
bei 17 C. Spätestens jetzt ist jedem Leser klar, dass wir nicht von
spanischen Stränden sprechen. Die Rede ist viel mehr von der Aare,
jenem Fluß, der die Schweizer Bundeshauptstadt Bern durchquert.
Wem
15 - 17 Grad im Hochsommer schon in Gedanken Frostbeulen beschert,
der sei daran erinnert, dass dafür der Thuner See verantwortlich
ist. Er besteht wie jeder See aus mehreren Wasserschichten, wobei das
Oberflächenwasser leichter und wärmer ist, die Schichten darunter
hingegen kälter und schwerer werden. Im Sommer wärmen sich die
oberen Schichten durch Sonneneinstrahlung auf – langsam allerdings,
da der See aus Gletscherwasser gespeist wird - und fließen in die
Aare ab.
So
weit so gut.
Viel
wichtiger ist aber, dass dann der Zeitpunkt gekommen ist, wo alle
Berner und manche Zugereiste es wieder tun: Die Aare hinab schwimmen.
Es ist ein Volksvergnügen der stillen, verträglichen und ganz
schweizerischen Art. Der mündige Bürger entscheidet selbst, ob er
sich den reißenden Fluten aussetzt. Lediglich ein Hinweisschild
mahnt, dass nur Ortskundige und geübte Schwimmer den Sprung wagen
sollten, doch verboten ist es nicht. So einfach lassen sich die
Bewohner der Alpenrepublik von der Obrigkeit auch nichts
vorschreiben. Der Schweizer ist vernünftig, verständig und in der
Lage, selbst über sein Schicksal zu entscheiden – und auch ganz
konkret, welchen Verlauf es nimmt. Denn der Lauf des Flusses hat
seine Tücken und hinein ist leichter als wieder hinaus.
Dem
Vergnügen tut all dies keinen Abbruch. Allein, zu weit oder in
Gruppen, mit Schlauchbooten, Flößen, Schwimmenten, leeren
Plastiktonnen, mit Neoprenanzug oder Sonnenbrille – alles ist
erlaubt,; es macht keinen Lärm und hinterlässt außer
gelegentlichem Strandgut keinen Müll und keine Altlasten. Höchstens
glückliche Gesichter.
Und
so wage auch ich den heldenhaften Selbstversuch. Zwar stürze ich
mich nicht von einer der Brücken, sondern wate ganz unspektakulär
im Eichholz bis in die Mitte des Flusses. Doch was dann kommt, ist
mitreißend, so oder so. In Sekunden bin ich zig Meter flussabwärts.
Schwimmen ist unnötig, sich treiben lassen nicht der richtige
Ausdruck. Eher wird man getrieben. Das Ufer fliegt vorbei. Die Kälte
drückt auf den Brustkorb und nimmt mir den Atem. Ich bin ziemlich
unentspannt auf meiner Schussfahrt, während vor und hinter mir die
Leut' ganz relaxt dahin zu gleiten scheinen. Nach wenigen hundert
Metern drängt sich auch schon die Frage auf, wo und vor allem wie
komme ich hier wieder raus.
An der Uferbefestigung sind in regelmäßigen Abständen Haltestangen
angebracht. Die Kunst ist, rechtzeitig von der Flussmitte her einen
dieser Griffe an zu visieren und dann Geschwindigkeit und Richtung
möglichst exakt miteinander in Verbindung zu setzen. Oder anders
formuliert: Wer zu spät zupackt, dem kugelt die Strömung den Arm
aus. Zwei Versuche schlagen fehl. Am Rand hält die Strömung
unvermindert an, aber die Wassertiefe nimmt jäh ab. Ich werde über
den steinigen Grund gerissen und schürfe mir Füße, Beine und Knie
auf. Erst beim dritten Mal klappt es mit der Navigation. Trotzdem ist
es ein Gefühl, als ob plötzlich Tonnengewichte am Schultergelenk
reißen.
Geschafft.
Übrig
bleiben Stolz und Kälte. Die Zähne klappern erbärmlich. Also
schnell einreihen in den Strom der Barfüßigen, der sich
unaufhaltsam stromaufwärts bewegt. Manche haben ihre Kleider in
wasserfesten Säcken transportiert und tauschen jetzt Badehose gegen
Businesshemd. Kein schlechter Arbeitsweg. Alle anderen latschen und
trippeln kilometerweit zurück, um erneut in die eisigen Fluten ein
zu tauchen. Ich bin nach einer Dreiviertelstunde wieder am
Ausgangspunkt. Ein großes Schild mahnt „Haltet das Eichholz
sauber!“. Ja, vernünftig bleiben. Obwohl das Schild eigentlich nur
für die Ausländer aufgestellt worden sein kann. Die Sanitäranlagen sind so sauber, dass man eine Berner Platte vom Boden essen könnte. Da verhält sich der Schweizer ordentlich und braucht keine Anweisungen.
Vermutlich auch keine Security-Firma mit Namen Bronco, deren
monströser Ami-Pickup mit einer Ladefläche so weit wie
Texas vor dem Eingang parkiert ist. Aber das ist nicht das Thema
hier, oder wie heißt es: „Verlier ke Ziit mit däm Blödsinn!“
In diesem Sinne, vernünftig bleiben.ch